Supervision
„Mist, schon wieder Supervision“, dachte Chrissy.
„Was für eine willkommene Abwechslung“, dachte Dirk. Beide betraten zur gleichen Zeit den Mezzanin des altehrwürdigen Hauses im schönen Wien.
„Hi!“
„Hi!“
Dirk nahm dieses Mal den Lift in den vierten Stock. Als er Chrissy fragendes Blickes ansah verneinte diese grimmig und nahm die Treppe.
„Verdammt, vier Stockwerke. Was für eine Qual. Aber besser als…“, dachte Chrissy und rutschte aus. Das Blut aus der Nase rann sofort. Der heute Abend blaue, morgen grüne, übermorgen gelbe Fleck am Schienbein war jetzt schon spürbar.
Chrissy setzte sich auf die Stufen und zupfte ein Taschentuch aus der Packung, die sie fand in ihrer stets überfüllten Handtasche.
Nach der Stillung der Blutung, Reinigung der Hose, Retusche des Make-ups stand Chrissy wieder auf und humpelte nach oben. Sie war eine der letzten und nahm Platz im Kreis. Die Stühle standen weit genug auseinander und sie wusste genau, in welche Richtung sie nicht blicken wollte.
„Wie kann mich dieser bescheuerte Typ nur so aus der Fassung bringen?“, dachte Chrissy.
„Da ist sie ja endlich. Sie ist definitiv die Hübscheste im Raum“, lächelte Dirk in sich hinein.
„Bestimmt hat sie der große Blonde aufgehalten. Als ob mir der das Wasser reichen könnte…“, dachte Dirk und ließ den schwedisch aussehenden, jungen Mann nicht aus den Augen, bis sich dieser auf den letzten noch freien Platz niederließ.
Dr. Elsbeth Fink eröffnete die Runde mit ihrem stets zufriedenen Blick. Sie nahm alle genau wahr. Das war ihr immer wichtig. Sie wollte auch nicht, dass man einander mit dem Namen ansprach, sondern so aufmerksam und achtsam war, dass man den anderen mit dem Blick zum Sprechen auffordern konnte.
„Ihr seid alles erwachsene Leute. Mir ist wichtig, dass ihr hier auch trainiert, achtsam zu sein. Ich kann nach wie vor nicht verstehen, dass man sich auf der Straße darüber aufregen kann, dass das Fahrzeug vor einem herausfährt und man bremsen muss. Das merkt man doch frühzeitig, wenn man achtsam und aufmerksam ist. Ist man es nicht und macht dann den anderen dafür verantwortlich… nun, ihr Lieben, wissen wir alle, dass es sich dabei um Projektion handelt.“ sagte Dr. Fink.
„Also. Unser heutiges Thema ist: Äußerst außergewöhnliche Fälle – und natürlich Eure speziellen Anliegen zu Euren aktuellen Fällen. Wir haben 120 Minuten Zeit, bitte stellt Euch darauf ein. Wir beginnen“.
Soweit die Einführung von Dr. Fink. Alle waren fokussiert und auf den konzentriert der sprach.
„Was für ein Glück“, dachte Chrissy und versuchte den beträchtlichen Blutfleck auf der Innenseite ihres rechten Oberschenkels zu verdecken.
Dirk hörte sehr gebannt zu. Er selbst hatte auch schon einiges erlebt in seinen Beratungen, aber manche erstaunten ihn schon sehr. Er schrieb wieder eifrig mit. In Wahrheit wusste er nicht, warum er das tat, er hatte sich noch nie seine Mitschriften angesehen. Aber es gab ihm das Gefühl, er könnte, wenn er wollte. Ja, er fühlte sich so kompetenter. Unendlich kompetent. So schrieb er die einzelnen Fälle nieder…
Chrissy und Mona
„Mona! Ich brauch Dich, ich bin schon völlig plemplem. Hast Du Zeit zu mir zu kommen oder ich in Deine Höhle oder wir ins Sieben-Stern?“ Chrissy schrie es förmlich ins Telefon, als wenn sie nicht an die Existenz der Funkverbindung glauben würde.
„Sicher Süsse. 7* ist super! Rob wird hoffentlich sowieso da sein und mit Greg, Sue und Mary habe ich mich dort auch schon für heute verabredet“, antwortete Mona ruhig.
„Wer ist Sue?“ fragte Chrissy wie aus der Pistole geschossen.
„Eine Freundin von Mary. Voll die Nette“, sagte Mona.
„Wie sieht die aus?“, fragte Chrissy.
„Wieso? Stehst Du neuerdings nicht mehr auf Männer? Dann ziehe ich mir was besonders Hübsches an, Herzchen?“, sagte Mona.
„Verarsch´ mich nicht. Ist die schlank und braunhaarig und super gechillt und war mal in einem bescheuerten Kreativkurs von der Volkshochschule?“, fragte Chrissy.
„Oh, Du hast recht! Ein bisschen plem bist Du schon… Wir sollten Dir schleunigst ein paar Kräuter, Pilze oder Umarmungen spendieren. Ja, Sue sieht irgendwie so MonaLisaMässigAufHeute aus. Hilft Dir das? Ich beschütz´ Dich schon, komm einfach! In einer Stunde.“ Mona legte auf.
Chrissy legte auch auf. Aber ganz langsam. Sie hatte das Gefühl, die ganze Welt wäre gegen sie.
„Wenn das wirklich diese bescheuerte Sue ist, mache ich auf der Stelle kehrt. Das wäre wieder mal typisch, wenn ich bei 2 Millionen Einwohner in Wien dieser Person gleich zwei Mal in einer Woche begegnen muss. Und wenn mein Glück es besonders gut mit mir meint, holt sie Dirk ab und er schmust sie im Lokal nieder, vor lauter Wiedersehensfreude“, dachte Chrissy.
Eine Stunde später sass sie griesgrämig vor ihrem Verlängerten (Kaffee natürlich). Nur Gott wusste, warum sie gedacht hatte, sie könne ihre Cappuccino-Liebe töten und auf die gesündere Variante umsteigen. Die nächste Schnapsidee ihres Lebens.
„Wie gehts Dir, Liebes?“, fragte Mona, die sich mit einem Ruck auf die abgewetzte Bank neben sie setzte.
„Ich bin so froh, dass Du da bist. Nur Du kannst mich retten!“, sagte Chrissy.
„Vielleicht solltest Du Dir mal eine Psycho-Therapie gönnen? Ok, war ein schlechter Scherz. Was ist los?“, fragte Mona.
„Ich bin mir jetzt sicher, Paul betrügt mich!“ Chrissy heulte los.
„Äh, Dein braver, süsser, smarter, dich anhimmelnder Paul? Bist Du sicher? Was hast Du entdeckt? Rote Spitzenunterwäsche in seiner Hosentasche? Weibliches Parfum in seinem Nacken? Einen Liebesbrief in der Geldtasche oder hat er Dir gar den Laufpass gegeben? Chrissy! Jetzt sag schon!“
„Nein“, sagte sie kleinlaut „Er nennt mich nicht mehr so oft bei meinem Kosenamen…“
„Der da wäre?“, fragte Mona.
„Notenschlüsselchen……“, sagte Chrissy leise und verzog jetzt sogar selbst das Gesicht.
„Nun, das halte ich aber für eine gute Erkenntnis von Paulchen und fast schon eine Liebeserklärung an Dich, wenn er das jetzt nicht mehr sagt… OK und weiter?“, fragte Mona.
„Nichts weiter“ schmollte Chrissy. „Ich hab sie wirklich nicht mehr alle, stimmt’s Mona? Wir wollten immer ehrlich sein…“
„Ja – und – ja“, erwiderte Mona. „Das wird schon wieder, Süsse oder sollte ich Notenschlüsselchen sagen? Noch eine klitzekleine Frage für jemanden, der sich in Liebesdingen nur theoretisch auskennt: Liebst DU ihn eigentlich noch?“
Chrissy schaute ihre Freundin verwirrt und zugleich nachdenklich an und bevor sie antworten konnte betrat Sue und Mary den Raum. Sie wurden beide aufs Allerherzlichste von Rob begrüßt.
Chrissy atmete erleichtert auf und Mona kniff die Augen zusammen.